von Fred Geiger
Die Mehrzahl agiler Managementmethoden stammen aus der Softwareentwicklung. Erste Ansätze entwickelten sich dabei schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Jahr 2001 trafen sich dann eine Handvoll Softwarepioniere auf einer Konferenz im US-Bundesstaat Utah – dort wurde dann der Begriff „agile Softwareentwicklung“ geprägt und das „Agile Manifest“ formuliert. Viele der 17 Unterzeichner des Manifests haben dann in der Folge auch eigene Tools und weiterführende Theorien entwickelt, mit denen man die Prinzipien des „Agilen Manifests“ in die Praxis umsetzen kann. So stammt die vielleicht bekannteste agile Methode „SCRUM“ von Ken Schwaber und Jeff Sutherland – beide Erstunterzeichner des Agilen Manifests. Mit SCRUM werden zum Beispiel die Grundsätze „Interaktion“, „Geschwindigkeit“ und „Kundenzentrierung“ aus dem Agilen Manifest unterstützt. SCRUM wird von Schwaber und Sutherland übrigens nicht als Methode gesehen, sondern als Framework, also eine Art Grundgerüst, an das dann ganz viele bekannte und neue Methoden situativ „angedockt“ werden.
So sieht SCRUM tägliche Abstimmungsmeetings, sogenannte Daily Scrums vor, um die Interaktion zwischen den Beteiligten zu fördern und die Geschwindigkeit bei der Umsetzung eines Projekts zu steigern. In der Softwareentwicklung macht diese extrem kurze Taktung von Meetings ja auch durchaus Sinn – ist doch davon auszugehen, dass die im Team eingebundenen Softwareentwickler tatsächlich jeden Tag Fortschritte erzielen. Ein Programmierer wird nämlich schlicht in wenigen Stunden X Zeilen neuen Programmcode schreiben, sodass er von Tag zu Tag und wirklich buchstäblich die Fortentwicklung seiner Arbeit im Daily Scrum vorstellen und mit anderen abstimmen kann.
Eine direkte Übertragung der Methodik „Daily Scrum“ in die Marketingpraxis hingegen, scheint aus meiner Sicht aber nur schwer sinnvoll umsetzbar zu sein: wenn Sie gestern die Kreativagentur gebrieft haben, wird es wohl heute noch keine Ergebnisse geben. Die Umsetzung einer Mediaplanung in 24 Stunden oder die finale Abstimmung mit dem Vertrieb zu einem wichtigen Marketingthema wäre in einer derart kurzen Zeit eher ein Wunder.
Diese Beispiele zeigen, dass eine 1:1-Übertragung der agilen Methodik auf das Marketing nur begrenzt möglich ist. Die Grundprinzipien agilen Denkens und Arbeitens sind aber sehr wohl auch im Marketing gültig. Die ursprünglichen Werte und Kernthesen entstammen dabei grundsätzlich alle noch dem Agilen Manifest aus dem Jahr 2001. Denn daraus kann man die „Sieben Gebote agilen Marketings“ ableiten, die, wie die 7 Todsünden, zeitlos sind. Auch kann man sie prinzipiell unabhängig von den täglichen Herausforderungen, vom jeweiligen Geschäftsmodell oder einer speziellen Branche sehen. Allerdings sollten wir Sie für´s Marketingmanagement durchaus auch deutlich anders interpretieren, als in der Softwareentwicklung. Aus meiner Sicht gelten für das Agile Marketing daher folgende Prinzipien:
Die sieben Prinzipien agiler Marketingarbeit
Schauen wir uns in diesem Artikel die ersten drei einmal genauer an:
Erstes Prinzip – Kundenzentrierung aller Marketingmaßnahmen
Sie halten das wahrscheinlich für eine Selbstverständlichkeit, ich kann Ihnen aber eine Vielzahl von Beispielen nennen, wo es eben nicht so ist. Regelmäßig geht so etwas z.B. dann gründlich schief, wenn Marketingleute glauben, dem vermeintlichen Zeitgeist hinterherlaufen zu müssen, beispielsweise in Fragen der „Sprache“ und der „Ansprache“ von Zielgruppen. Ein typischer Fall ist die aktuelle Posse um das Thema „gendern“ bei Audi. Ähnliches passierte an der Technischen Hochschule in Nürnberg, an der ich zwei verschiedene Vorlesungen halte, wo eine im falschen Verteiler gelandete E-Mail (die besagte E-Mail ging dann an insgesamt 15.000 Personen) zum Thema „gendern“ für bundesweite Schlagzeilen gesorgt hat. Mich hat dieser Vorfall an der TH Nürnberg, den ich nun vollumfänglich und „live“ verfolgen konnte, übrigens nachdenklich gemacht: die Vehemenz, mit der abweichende Meinungen inzwischen diskreditiert werden, hätte ich noch vor wenigen Jahren in Deutschland nicht für möglich gehalten. Kundenzentrierung heißt für mich in diesem Zusammenhang übrigens: gender nur, wenn es auch die große Mehrheit Deiner Zielgruppe tut.
Denken Sie auch an die um sich greifende Duz-Kultur in der Marketingkommunikation, getrieben vor allem von Unternehmen deren Geschäftsmodelle onlinebasiert sind. Auch kann man durchaus Zweifel hegen ob die Betonung von Diversity und Nachhaltigkeit im Marketing – von der hippen Softwarefirma, über den traditionellen Schokoriegelhersteller bis hin zum Anbieter von Werkzeugmaschinen, wirklich zur Kundenbindung beiträgt. Da sei an den alten Verkäuferspruch vom Wurm, der dem Fisch schmecken muss und nicht dem Angler erinnert. Die Hybris vieler Marketingverantwortlicher oder Unternehmenslenker lässt, was die o.g. Beispiele exemplarisch zeigen sollen, genau die Kundenzentrierung außen vor. So ist der Audi Erstkäufer kein Berliner Hipster, der die Anwendung zumindest geschlechtergerechter Sprache für ein elementares Entscheidungskriterium beim Autokauf hält. Der Erstkäufer eines Audi ist tendenziell männlich und über 50 Jahre alt. In dieser Zielgruppe ist die Ablehnung der „Gendersprache“ besonders ausgeprägt. Vor einigen Jahren habe ich ein Seminar zum Thema „Tonality“ für ein großes Onlineimmobilienportal durchgeführt. Man war dort überrascht, dass der Käufer eines Anlageobjekts im Wert von 30 Mio. Euro vielleicht doch nicht geduzt werden möchte. Kundenzentrierung bedeutet in diesem Fall: Duze nur, wenn es von Deinen Kunden nicht als übergriffig erlebt wird. Auch ich habe ja dieses Problem, denn es gibt Unternehmen und Seminare, wo man sich duzt – auch den Trainer. Bei Seminaren löse ich dieses Problem durch eine anonyme Umfrage zum Start: wenn mehr als eine Person mir gegenüber beim Sie bleiben will, sieze ich generell.
Lebensmittelhändler investieren hohe Beträge in die Bewerbung ihres veganen Sortiments – dabei gibt es in Deutschland gerade einmal (je nach Quelle) gut eine Millionen Veganer. Das Thema Nachhaltigkeit ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Herausforderungen für die Menschheit – für Unternehmen ist das aber m.E. nach schlicht ein Hygienefaktor und kein Argument mit denen man sich im Wettbewerb profilieren kann. Kundenzentrierung bedeutet: setze Deine Marketinggelder für diejenigen aktuellen (oder vielleicht auch zukünftigen) Kunden ein, die mittelfristig Deine Ertragsbasis darstellen. Das vegane Sortiment – das hat man dann einfach, ohne es in der Kommunikation in den Fokus zu rücken.
Um sich „raus aus der eigenen Filterblase“ zu begeben und sich „in die Schuhe des Kunden zu stellen“ – hierfür gibt es im Agilen Marketing eine Reihe sinnvoller Werkzeuge, sei es die kreative und schlüssige Ermittlung von Buyer Personas oder die strukturierte streng kundenzentrierte Entwicklung von Marketingmaßnahmen mittels der Methode Design Thinking.
Zweites Prinzip – Grundprinzipien und „Rezeptbücher“ sind die Basis erfolgreicher agiler Marketingarbeit
Insbesondere bei vielen Führungskräften im Mittelmanagement stelle ich fest, dass es Vorbehalte gibt, was die agile Transformation im Marketing und auch im Vertrieb anbelangt. Nicht dass man Methoden wie Scrum oder Stand-Up-Meetings grundsätzlich ablehnen würde, sie werden aber leider gerne nur als eine Art folkloristische Bereicherung bestehender Marketingwerkzeuge gesehen. Die Widerstände betreffen deshalb vor allem das Thema „Agilität“ insgesamt. Man glaubt, dass dadurch die Anarchie im Unternehmen Einzug hält: wilde, hierarchiefreie, dafür aber enorm kreative Teams entwickeln, ohne jede Zahlenevidenz, ständig neue Ideen und tragen für die Ergebnisse nie irgendeine Verantwortung. Wenn es nicht funktioniert hat, kommt sofort die noch abgehobenere, noch weniger strategiekonforme und noch weniger ergebnisorientierte „neue Sau, die durch´s Dorf getrieben wird“. Dabei sollte Agiles Marketing gerade nicht weniger auf Zahlen und Fakten basieren, als klassische Marketingarbeit. Das Gegenteil ist der Fall – mehr Zahlen, mehr Fakten – dafür schneller und mit einem geringeren Anspruch auf Perfektion. Unser agiler Werkzeugkasten hält dafür Tools wie die agile Budgetierung, OKR, Blue Ocean oder die Balanced Scorecard bereit.
Drittes Prinzip – Geschwindigkeit ist wichtiger als Perfektion
Sie müssten sich einer komplizierten Herzoperation unterziehen und der Chirurg würde Ihnen erklären, dass er 30 % schneller operiert als seine Kollegen? Ein Malerbetrieb würde Ihnen beim Erstgespräch erklären, dass Ihr Haus inklusive Auf- und Abbau des Gerüsts in nur einem Tag in neuem Glanz erstrahlen würde? Da würden Sie im Falle der anstehenden Operation doch sicher noch spontan das Krankenhaus wechseln und Sie können sich lebhaft das voraussichtliche Ergebnis der Malerarbeiten vorstellen. Im agilen Marketing hingegen würden Sie der Geschwindigkeit der Umsetzung Vorrang vor der Perfektion der Arbeit geben. Das gilt natürlich nicht für zentrale Fragestellungen der Marketingarbeit – siehe die Operation am offenen Herzen – wohl aber für die Projekte im Tagesgeschäft. Warum ist das so? Weil die Marketingwelt VUKA ist, weil Marketingprojekte immer kurzfristiger und kleinteiliger werden und weil wir aus diesen Gründen viel mehr ausprobieren müssen. Deshalb werden wir auch häufiger scheitern – aber schneller scheitern und daraus zu lernen ist keine Schande, sondern ein wichtiges Element agiler Marketingarbeit. Dazu bedarf es aber in den meisten Unternehmen eines dramatischen Kulturwandels, denn immer noch gilt in vielen Unternehmen das Prinzip „Fehlervermeidung“ als Maßstab. Im agilen Marketing hingegen dürfen wir ganz bewusst scheitern, es ist sogar ausdrücklich erwünscht. Allerdings gilt auch der Grundsatz, dass wir einen Fehler nicht zwei Mal machen dürfen.