10 Erfolgsfaktoren für agiles Marketing: Teil 2 – Agile Budgetierung als zentraler Steuerungsmechanismus


von Fred Geiger

Warum klassische Budgetierungsmethoden planwirtschaftliches Denken und sklerotische Tendenzen in Unternehmen fördern aber agile Budgetierungsmethoden verkrustete Denkweisen aufbrechen und den Teamgeist beflügeln können

Agile Strukturen in Unternehmen zu schaffen bedeutet, dass wir einerseits Hierarchien schleifen und damit zunächst Friktionen aus dem System immer komplexerer Marketingprozesse nehmen. Auch wird die Autonomie von Teams gefördert und Entscheidungen werden zum Glück zunehmend dort getroffen, wo die fachliche Kompetenz liegt. Der Preis dieser an sich begrüßenswerten Entwicklung ist aber die Vervielfachung von parallel laufenden Projekten. Das ist aber in einer agilen Organisation zwingend notwendig: Schließlich werden wir nur dadurch schneller.

Die Gefahren sind hierbei aber eine mögliche Verselbstständigung dieser Projekte, eine falsche Zuteilung von Ressourcen und damit verbunden eine Gefahr für die einheitliche und klare Markenwahrnehmung seitens unserer Kunden und Leads. Auch wenn es manchem Apologeten der neuen „Agil-Bewegung“ nicht gefällt: Die Führung einer Marke ist eine kompromisslose und gnadenlos diktatorische Angelegenheit und steht damit per Definition zunächst einmal im Widerspruch zum agilen Ansatz. Trotzdem kann man das eine tun (agiles Marketing betreiben), ohne das andere (unzweideutige Markenführung leben) bleiben zu lassen.

Ein Schlüssel hierfür ist eine neue Arbeitsorganisation und -kultur, ein anderer die Steuerung von Komplexität über flexible und atmende Budgets. Mit Ersterem werde ich mich in einem der folgenden Artikel beschäftigen, Letzteres ist aber einfach und schnell umsetzbar, ohne vorher zwangsläufig die Herkulesaufgabe der agilen Transformation hinter sich gebracht zu haben. Kurzum: Agile Budgetierung ist nur ein erster Schritt zu einem wahrlich agilen Marketing, aber eben auch eine pragmatische Lösung, um schnell erste agile Erfolge zu erzielen.

Dazu müssen wir uns zunächst einmal damit beschäftigen, wie Budgets sinnvoll und dem Ziel dienend ermittelt werden können. Dafür gibt es in der betrieblichen Praxis eine Reihe von Ansätzen, die auf den ersten Blick je nach Unternehmens- und Wettbewerbssituation auch sinnvoll erscheinen:

  • Kontinuitätsansatz
    • Es wird der Wert der Vergangenheit fortgeschrieben und allenfalls um eine Variable wie Kostensteigerung bei Werbe- und Medialeistungen korrigiert.
  • Kompetitivitätsansatz
    • Es wird der Wettbewerb in Share of Advertising (einfacher) oder Share of Voice (komplexer) als Maßstab für die eigenen Aktivitäten herangezogen. Das bedarf seriöser Schätzungen über die Werbeausgaben des Marktes bzw. des Konkurrenten, den man sich als Benchmark auserkoren hat. Solche Zahlen können über gekaufte Marktforschung (z B. den Daten der Nielsen Werbemarktforschung) und/oder über gute Kenntnisse der Kosten für Kommunikationsmaßnahmen oft erstaunlich präzise ermittelt werden. Am Beispiel: unser Wettbewerber gibt etwa 4 Mio. € für Werbemaßnahmen aus und wir machen nur halb so viel Umsatz wie dieser. Ergo liegt unser Budget bei ca. 2 Mio. €. 
  • „All you can afford“-Ansatz
    • Wir geben das aus, was wir uns (maximal) leisten können. Hier erhalten dann Marketing und PR die „Brosamen“, die nach dem Beschluss der Geschäftsführung noch für „Reklame“ übrig bleiben. Das mag bizarr anmuten, ist aber in kleineren oft inhabergeführten Unternehmen durchaus gängige Praxis.
  • „Prozent-von“-Ansatz
    • Wir orientieren uns an einer internen Variablen (Umsatz, Absatz, Nettoerlös …). Hier werden dann die Kommunikationsausgaben zu einem Teil der Produktkalkulation, wie die Rohstoffe oder die Arbeitslöhne.
    • Gängig ist hier auch das Modell „A/S-Ratio“ (Advertsing to Sales Ratio) auch ROAS (Return on Advertising Spend) genannt. Konkret: Unser Budget wird als Prozentsatz vom (Plan-)Umsatz ermittelt.
  • Kommunikationszielorientierter Ansatz
    • Wir ermitteln das Budget nach Kommunikationszielen und justieren die Ziele, wenn keine Budgetdeckung erreicht wird
    • Bei Markenartiklern ist hier die Orientierung am „Markendreiklang“ üblich.

Die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Budgetierungsansätzen liegen darin, dass es dabei „offensive“ und „opportunistische“ gibt. Diese haben unterschiedliche Vor- und Nachteile.

So wird ein offensiver kommunikationszielorientierter Budgetansatz hoffentlich zur Erreichung von Bekanntheits- und Kaufbereitschaftszielen führen. Wenn wir aber, aus welchen Gründen auch immer, die Umsatz- und Ertragsziele nicht erreichen, stellt diese Vorgehensweise ein erhebliches wirtschaftliches Risiko dar. Wenn ich mich hingegen ständig an den Ausgaben meines Wettbewerbers orientiere, werde ich damit ein Budget mit hoher Planbarkeit schaffen. Aber wie will ich dann, rein sachlogisch, gegenüber dem Wettbewerber aufholen?

Die Schwäche aller gängigen Budgetierungsmethoden ist aber die letztendlich planwirtschaftliche Denke, die diesen zugrunde liegt und der systembedingte Mangel an Flexibilität bei sich rasant ändernden Marktbedingungen oder bei Fehlern in unseren Prognosen. So treffe ich immer wieder auf Marketeers, die stolz darauf sind, dass sie die Marketinggelder bis Ende Oktober komplett ausgeben („verbraten“ wäre wohl der passendere Begriff) haben, da sie die Erfahrung lehrt, dass im November immer wieder „Kürzungsorgien“ von den Vorgesetzten gefordert werden. Offenherzig und fast schon schelmisch wird dieser Unfug dann zum erfolgreichen Widerstand gegen „das System“ erklärt. Ein anderes Beispiel: Ein Unternehmen schaltet seit Jahren fast ausschließlich Printanzeigen in den exakt gleichen Medien, obwohl diese 50 % ihrer Auflage verloren haben. Der Grund: die Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen weigern sich beharrlich, sich mit neuen Lösungen der Mediaschaltung zu beschäftigen, und Soziale Medien werden unisono zu „für die Branche nicht relevant“ erklärt, ohne dass diese Aussage mit irgendwelchen Fakten belegt werden kann.  In größeren Unternehmen hingegen finden wir oft folgenden „Klassiker“: Im Brustton der Überzeugung wird mittels einer 70-seitigen Powerpointpräsentation eine 3-Jahres-Plan vorgestellt, der den Break-Even des neuen Produktes nach 30 Monaten ermittelt. Dabei sollten wir doch demütig erkennen, dass eine noch so gute Prognose doch nur „eine Vermutung mit Hochschulbildung“ ist. Am Ende findet eine unfassbare Ressourcenverschwendung statt, weil man sich halsstarrig an veraltete Werbelösungen klammert oder sich in alter Sowjet-Manier an 5-Jahres-Plänen festhält, die bereits im ersten Jahr von der Wirklichkeit überholt werden.

Die Alternative kann aber nicht sein, einfach „in den Tag hinein zu leben“, weil alles so schrecklich unsicher ist. Die Kunst besteht vielmehr darin, trotz aller Unwägbarkeiten der neuen Zeit die richtige Balance zwischen einem nachhaltigen strategischen Ansatz und einer hinreichend flexiblen Budgetplanung zu finden. Die Lösung hierfür wiederum heißt „Agile Budgetierung“. Wie das geht? Versuchen wir uns an einem Beispiel….

Ein Hersteller von Kaffeevollautomaten führt eine neue Produktreihe unter der Marke „La Cafeteria“ im Markt ein. Primäre Zielgruppe sind Endverbraucher, sekundäre Zielgruppe sind die Absatzmittler, sprich die Entscheider des Handels vom Einkäufer bis hin zum Abteilungsleiter eines Elektromarktes. Der 3-Jahres-Plan sieht ein Budget von insgesamt 9,3 Millionen € vor. In der Vergangenheit hat sich bewährt, im ersten Jahr deutlich zu overspenden – deshalb stehen im ersten Jahr rund 4,8 Mio. € zur Verfügung. Die Höhe der Budgets ist für den agilen Ansatz übrigens nicht essenziell, sprich ob wir von 4,8 Mio. oder nur von 200.000 € Budget sprechen, ist unerheblich. Wichtig hingegen ist ein abweichender agiler Ansatz in der Budgetsteuerung.  

Das Budget für Jahr I bis III wurde nach dem ROAS-Ansatz ermittelt. Bei 96 Mio. geplantem Nettoumsatz hat man für das erste Jahr 5 % ROAS angesetzt. Deshalb 4,8 Mio. €. Die Marketingleiterin ist neu im Unternehmen und kommt von einem großen bekannten Markenartikler. Blaupause für den Marketingplan ist das, was das Unternehmen bisher bei Produktneueinführungen getan hat, die Marketingleiterin möchte aber natürlich trotzdem jetzt schon ihren „Fußabdruck“ hinterlassen.

Ein schöner Vertrag aus der Zeit „vorm Krieg“ sichert unserer Werbeagentur einen jährlichen Tender von 500.000 €. Dann gehen noch einmal 600.000 € für die vom Vertrieb bestellten „Standardwerbemittel“ dahin.  3 Messen, zwei Ausstellungen, eine Roadshow für Absatzmittler an 10 Standorten (die wir schon immer gemacht haben und deshalb wieder durchführen müssen) und drei Handelsaktionen mit Mediamarkt & Co. – und schon sind weitere 1,5 Mio. € ausgegeben. Für die Fachhandelskampagne im Frühjahr und Herbst (da müssen wir ganz sensibel alle 6 Fachzeitschriften der Branche mit je 3 Frequenzen beglücken, weil das die PR-Abteilung fordert) – 220.000 €. Der Rest ist Print in überregionalen Tageszeitungen und großen Publikumszeitschriften, aufgeteilt in zwei Flights (Frühjahr und Weihnachtsgeschäft). Die neue Marketingleiterin hat immerhin als erste Amtshandlung gleich einmal 200.000 € aus der Printkampagne „abgezwackt“ und für klassische Displaywerbung vorgesehen.

Wenn es am Markt leidlich gut läuft, wird dieser Plan 1:1 abgefackelt, wenn nicht, wird die Weihnachtskampagne ersatzlos gestrichen. Flexibel reagieren, aktiv handeln? – in einem solchen System nicht vorgesehen. Aktive unterjährige Steuerung der Maßnahmen? – Fehlanzeige. Hinterfragen der Sinnhaftigkeit des bisherigen Kommunikationskonzepts? – scheitert am Vertrieb (haben wir immer schon so gemacht, Händler erwarten das), den eigenen Mitarbeitern, Vorgesetzten und Agenturen.  Bessere Vernetzung von Vertrieb, Marketing und PR? – wie soll das bei einer seit vielen Jahren gepflegten Feindschaft zwischen den Abteilungen denn mehr als eine ferne Zukunftsvision sein?

Dass hier fundamentale Veränderungen notwendig sind ist glaube ich unbestritten. Nur können in einem ersten Schritt keine dramatischer „Change“ in der Organisation und den Prozessen vorgenommen werden. Sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit an den gelebten Traditionen und (noch viel eher) an den Menschen im Unternehmen scheitern. An schnellen „Change“ glauben nur überambitionierte Geschäftsführer und naive Personaler. Ein einfacher Quick Fix in Richtung „Agile Organisation“ ist dagegen eine neue und pragmatische Art der Budgetsteuerung. Um zu unserem o.g. Fallbeispiel zurück zu kommen: die neue Marketingleiterin glaubt, sie ist die „Herrin des Geschehens“ und nur vielleicht 20 % des Budgets sind fix. In der Realität fehlen völlig die Gestaltungsmöglichkeiten, weil faktisch wahrscheinlich schon 80 % der Gelder „committed“ sind. Jetzt gilt es die Initiative zurückzugewinnen, „vom Amboss wieder zum Hammer“ zu werden, ohne (gerade als Neuling) nicht an den wohligen, „woken“, bequemen oder statusgetriebenen Weltbildern der Kollegen zu rütteln. Für unsere Marketingleiterin also eine Reihe von Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Wie das über eine alternative Budgetierungsmethodik gehen kann, sehen wir im nächsten Beitrag.