AI und Chat GPT – Der nächste Kondratieff in der Weltgeschichte?


von Fred Geiger

Der 1892 geborene sowjetische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff, der 1938 ein Opfer des Stalinismus wurde, entwickelte die Idee der langen Wirtschaftszyklen, die über die letzten 250 Jahre die Welt geprägt haben. Beginnend mit der verbesserten Dampfmaschine von James Watt und der modernen Textilindustrie (automatischer Webstuhl und automatische Spinnmaschine) im späten 18. Jahrhundert, sind diese etwa 40 bis 60 Jahre lang. Als letzter, fünfter Kondratieff, galt die Entwicklung der IT- und Telekommunikationsindustrie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, dessen wesentlicher Bestandteil die Verbesserung der Informationstechnologie, vor allem bei der Hardware war und die natürlich auch das Internet bzw. das World Wide Web umfasste.

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Am Ende eines jeden Kondratieffs (so werden diese Zyklen nach seinem Entdecker auch genannt) steht dann übrigens immer die Ausreizung einer bestehenden Technologie und damit verbunden eine wirtschaftliche Stagnation. Bis dann in dieser Wirtschafts- und Sinnkrise kluge Menschen das „Alte“ über Bord werfen und völlig neue Ideen entwickeln, um damit dann einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung in Gang zu setzen. Dieser geht dann aber auch immer mit erheblichen gesellschaftlichen Verwerfungen einher. Der vielleicht bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, der Österreicher Joseph Schumpeter, nannte das den Prozess „der kreativen Zerstörung“.

Mir scheint, dass wir wieder genau an einem solchen Punkt angekommen sind und dass, neben anderen Technologien, zu diesen neuen Faktoren die Künstliche Intelligenz gehört. Mir selbst fehlen Wissen und Ausbildung, um das ganze Ausmaß der Entwicklungen und Möglichkeiten auch nur ansatzweise zu erfassen. Trotzdem ist aus meiner Sicht auch meine Arbeit und meine (berufliche) Zukunft von einem kleinen Teilaspekt der KI unmittelbar betroffen und zwar sehr viel schneller, als ich es mir hätte vorstellen können. Das Werkzeug, das meine Welt, die Welt des Marketing und der Bildung revolutionieren wird, heißt für mich Chat GPT, bzw. BARD (die Alternative hierzu, an der Google gerade fieberhaft arbeitet).

Ein Beispiel: in diesem Blog versuche ich mich an „meinen“ Themen immer in Form von Artikelreihen, wie „10 Erfolgsfaktoren agilen Marketings“ und wende dafür natürlich relativ viel Zeit und Mühen auf. So überlegt man sich zum Beispiel was „Agiles Marketing“ überhaupt ist – oder man füttert Chat GPT und erhält innerhalb weniger Sekunden die folgende erstaunliche Antwort:

Antwort von Chat GPT auf die Frage „Definition Begriff Agiles Marketing“

Ganz ehrlich – viel besser kann man es eigentlich nicht formulieren, auch wenn in diesem Text natürlich noch Fehler enthalten sind (so ist agiles Marketing keinesfalls eine Marketingstrategie, sondern eine grundsätzliche Denkweise), die eine oder andere vertiefende Information fehlt und die Quellenlage nicht klar ist.

Was aber bedeutet das für das Marketing und den Bildungssektor, in dem ich und vielleicht auch Sie tätig sind?

  1. Bei einer Dozentenkonferenz an einer Hochschule, an der ich arbeite, berichtete ein Kollege, dass CHAT GPT eine von ihm gestellte (auf Wissen basierende) Klausur mühelos bestehen würde. Hier stellt sich zukünftig die Frage, welches Wissen wir in welcher Form vermitteln müssen und wie Prüfungsformate in Zukunft aussehen werden. Die „Vorlesung“ im Wortsinn wird auf jeden Fall in Zukunft wohl zum Anachronismus werden.
  2. Was bedeutet CHAT für die zukünftigen Aufgaben von Call-Centern (oder besser: Contact-Centern) von Unternehmen? Wie viele und welche Menschen werden dort in Zukunft noch beschäftigt sein? Schließlich können diese Systeme auch heute schon sprechen und das sogar im Dialog.
  3. Wie werden zukünftig E-Mail-Shots und Newsletter formuliert und welche Möglichkeiten für die Individualisierung der Kundenkommunikation ergeben sich daraus?
  4. Welche Unmengen an Pressemitteilungen können auf diesem Wege erstellt werden und wie kann der Empfänger hier noch unterscheiden, ob der Inhalt AI-basiert ist oder von einem Menschen erzeugt wurde?
  5. Wohin werden sich Soziale Medien entwickeln, wenn ich die Zahl meine Posts pro Tag ganz locker um das zwanzigfache steigern kann? Wichtig zu wissen: auch KI kann Fake-News erzeugen.
  6. Wie können Suchmaschinen dann solche Inhalte erkennen (keine Sorge, Google arbeitet schon daran) und wie werden diese zukünftig beim Ranking berücksichtigt?
  7. Was bedeutet das für die journalistische Arbeit und für die Arbeitsplätze dort? Seien es Wirtschaftsjournalisten, Onlineredakteure oder Radiomoderatoren.
  8. Wie schreibt man zukünftig ein Fachbuch oder einen Fachartikel? Wie kommt dabei „neues Wissen“ in die Welt, denn schließlich können Chat GPT & Co. ja nur auf bestehende Informationen zurückgreifen?

Die vorgenannten Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt aus den vielen Möglichkeiten und Herausforderungen, die wir erkennen bzw. die wir meistern müssen. Kondratieff wurde von den Schergen Stalins übrigens ermordet, weil er mit seinen Thesen natürlich die Planwirtschaft in Frage gestellt hat. Damals ein todeswürdiges Verbrechen. Heute dräut einem zum Glück nur ein Karriereknick, wenn man in planwirtschaftlich geführten Unternehmen und Marketingabteilungen den Mahner oder die Mahnerin gibt. Aber tun wir´s, weil es dazu keine Alternative gibt und vor allem die Geschwindigkeit und die Dramatik der Veränderungen atemberaubend sein werden. Wie formulierte es einst der große Werber David Ogilvy: „Erweitern Sie Ihr Blickfeld. Gehen Sie neue Wege. Streben Sie das Unmögliche an. Nehmen Sie den Kampf mit dem Unsterblichen auf!“