10 Denkfehler im Marketing Teil 10: Availability Bias


von Fred Geiger

Warum wir eigenen Erfahrungen und fremden Erfolgsrezepten nicht vorbehaltlos vertrauen sollten

In den USA steht das Wort „Edsel“ sinnbildlich für einen Megaflop in Sachen Marketing. Gilt dieses Fahrzeug von Ford doch als eines der grandiosesten Missgeschicke in der Historie der Absatzwirtschaft. Aber desaströse Fehlentscheidungen sind in Marketing und Vertrieb sehr viel häufiger, als man gemeinhin annimmt. Nur werden wir leider von den Erfolgsgeschichten kommunikativ dominiert. Dadurch erhalten wir ein irreales Trugbild, das es uns schwer macht, die rational richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir gehen immer wieder einer hinterhältigen Fata Morgana auf den Leim, die uns manchmal sogar am richtigen Denken hindert.

Warum das so ist? Menschen wollen einfach Erfolgsgeschichten hören, Menschen wollen sich Ihrer Entscheidungen und Ihrer gewählten Strategien sicher sein, Menschen wollen Ihr Weltbild störende Gedanken ausblenden und Menschen neigen in Ihrem Streben nach Harmonie zum Opportunismus.

Einige Beispiele gefällig: Welcher Uniprofessor im Fach Marketing will schon den Hörsaal einem Loser zur Verfügung stellen, der einen Nachmittag über seinen grandiosen Misserfolg referiert, wenn man doch alternativ den smarten Hipster von diesem schicken Berliner Start-Up einladen kann, der das Audimax füllt und dort nicht nur über seine geniale Idee, sondern auch über seine tollen unternehmerisch denkenden Mitarbeiter und die kostenlose Cafeteria seiner Dotcom-Firma mit der selbstverständlich veganen Speisekarte berichten kann? Am Ende besteht der Praxisbezug des Marketingstudiums aus einer wahllosen Aneinanderreihung solcher Erfolgsgeschichten.

Ein (angestellter) Unternehmenschef, der für den ökologischen Umbau unserer Gesellschaft und seines Unternehmens eintritt aber in der Flüchtlingskrise eine AFD-nahe Position einnimmt – undenkbar.

Ein Produktmanager, dem man die größte Marke des Unternehmens anvertraut hat und der zwei Wochen nach seiner Inthronisation vorschlägt, das Werbebudget zu halbieren, da es seiner Meinung nach viel zu hoch ist – solch tollkühnen Mut habe ich noch nicht erlebt.

Weil wir im Studium und in dem darauf folgenden mehr oder weniger erfolgreichen Berufsweg nun einmal so stromlinienförmig sozialisiert werden, glauben wir deshalb alle, dass der Marketingerfolg auf einem klar erkenn- und erlernbaren Kanon von Gesetzmäßigkeiten basiert und wir diesen auch beherrschen. Wir Glückspilze können dann auch noch diese Geheimwissenschaft im Rahmen von so kostenlosen wie grandiosen Praxisvorträgen im Studium und dann weiter in teuren Erfolgsseminaren auf unserem Weg vom Marketingassistenten zum Head of Marketing eines Unternehmens quasi „en passent“ erwerben. Unser Blick auf die Welt ist aber aus diesen Gründen leider ein sehr verengter und fördert immer die gleichen Denk- und Verhaltensmuster, die dann in der Nachbetrachtung zum oft entsetzlich banalen Denkfehler mutieren. Oder, um in der Marketingsprache zu bleiben – sich als ein „Edsel“ herausstellen.

Der Ford Edsel – der größte Flop in der Geschichte der Automobilindustrie

Warum wir immer wieder auf Erfolgsgeschichten hereinfallen

Die Geschichte des Marketing ist ganz häufig eine Geschichte des Scheiterns, des Glücks und der Zufälle, nur wollen wir das nicht glauben.  Schauen wir uns doch einmal die internationale Start-Up-Kultur an. Allein in Berlin gibt es 620 Start-Ups mit rund 13.200 Beschäftigten. In diese Unternehmen flossen rund 2,1 Mrd. € Risikokapital. Auf den ersten Blick, sind das beeindruckende Zahlen – Berlin als die Start-Up Metropole Deutschlands.

Vergleichen wir das aber mit der Zahl der anderen Arbeitsplätze in der Hauptstadt, relativiert sich das dramatisch: allein die Berliner Polizei beschäftigt 32.000 Personen. Selbst die Giganten unter den Berliner Startups wie Auctionata, Rebuy, Monoqi oder Aponeo realisieren nur mittlere Millionenumsätze und basieren im Grunde auf wenig innovativen Geschäftsmodellen. Was aber ist mit den anderen gut 600 Start-Ups? Wie hoch sind deren Umsätze? Wie ist die aktuelle Ertragslage dieser Unternehmen und wie die Zukunftsaussichten? Was wird wohl hier aus den rund 2 Mrd. Euro Risikokapital? Beredtes Schweigen in Presse, Funk und Fernsehen.

Wir werden von den szenekundigen Wirtschaftsjournalisten nicht mit den vielen Insolvenzen belästigt, nachdem das gesamte Risikokapital in schicken Bürolofts, witzigen Werbeauftritten und innovativen Social Media Kampagnen verbrannt wurde. Wir sehen nur die ruhmreichen Überlebenden, ordnen die Umsatzzahlen in der Gesamthöhe, sowie in ihrer Relation zu klassischen Geschäftsmodellen, völlig abwegig ein und treffen deshalb falsche unternehmerische Entscheidungen.

Dass die von uns geplante Auktionsplattform wohl nur homöopathisch große Umsätze erzielen wird – übersehen wir. Dass wir 20 % unserer Werbegelder in Social Media Aktivitäten investieren – in unserer Branche  vielleicht grober Unfug. Dass wir in drei Jahren ein Drittel unserer Umsätze online erzielen – eine Utopie. Lassen Sie sich also nicht von den wenigen Beispielen aus der Start-Up-Ruhmeshalle blenden, besuchen Sie auch den großen Friedhof, der sich direkt dahinter anschließt und treffen Sie erst dann in aller gebotenen Nüchternheit Ihre Entscheidungen.

Warum wir auf die falschen Marketinginstrumente setzen

Kluge Marketingstrategien oder erfolgreiche Werbekampagnen sollten doch, so glauben wir zumindest, unabhängig von den im Tagesgeschäft tätigen Akteuren umsetzbar sein. Es sei denn, bei Ihnen arbeiten nur „Dummköpfe“, was ja wohl hoffentlich nicht der Fall sein wird. In der Praxis gibt es aber eine erstaunliche Korrelation zwischen dem Erfahrungsschatz und der Ausbildung der am Prozess der Umsetzung Beteiligten und dem Inhalt und Erfolg der Ausführung von Maßnahmen.

Ganz häufig scheitert eine neue erfolgversprechende Strategie am Mittelmanagement der Unternehmen. Der Grund liegt in der Doppelfunktion des mittleren Managements begründet: Während sich das Top-Management mit den wichtigen strategischen Fragen beschäftigen sollte, die detailliertes Fachwissen nicht erfordert und auf der Sachbearbeiterebene notwendiges, vielleicht sogar völlig neues Wissen „eingekauft“ werden kann (sei es durch neue Mitarbeiter, Weiterbildungen oder Outsourcing), bleibt z.B. der Marketingleiter in seiner Sandwichposition gefangen.So kenne ich nach wie vor viele Marketingverantwortliche, die Google Adwords fachlich schlicht nicht verstanden haben, obwohl das Unternehmen inzwischen 20 % der Mediagelder dort investiert oder verzweifelt nach Kennziffern suchen, wie das ROI bei Social Media funktioniert, wo man im letzten Jahr diese junge Kollegin mit Nasenring und Tattoos eingestellt hat.

Das Kernproblem: man muss die neue Marketingwelt fachlich wirklich durchdringen, weil das von einem Mitarbeiter der mittleren Führungsebene erwartet wird, ist aber mental und intellektuell damit überfordert. Die richtige Reaktion wäre ja objektiv, den Mitarbeitern fachlich zu vertrauen, seine Ahnungslosigkeit hier und da auch einmal offen zu bekennen und Diversity und agiles Management dadurch zu leben, dass mir als „Armani-Anzugträger“ auch einmal ein halb so altes „Grunge-Girl“ die Welt erklärt. Nur haben viele Verantwortliche diese Größe nicht.

Weil man seine „Felle davon schwimmen sieht“, gibt es hier oft eine Neigung zum „Roll-Back“. Da wird dann die neue Ausrichtung vordergründig unterstützt (man will sich ja nicht als Bremsklotz outen), de facto versucht man aber die Aufmerksamkeit und die Budgets auf altbekannte Marketinginstrumente zu lenken. Sie ahnen es schon: es sind dann diejenigen, die der Herr Marketingleiter mit der Muttermilch aufgesogen hat, wo er sich zuhause fühlt  und wo er allen zeigen kann, „was eine Harke ist“. Es wird dann nicht mehr das gemacht, was der Markt braucht, sondern was das Mittelmanagement kann. Am Ende sind es dann doch wieder die Anzeigen in denselben Zeitschriften, TV-Spots in immer den gleichen Fernsehsendern und Messestände, die keinerlei innovative Ausstrahlung haben – typisch Availability Bias.

Hier ist das Topmanagement gefordert: prüfen Sie ständig, ob das Marketing die neue Marschrichtung offensiv unterstützt (und machen Sie dafür die Marketingleitung „in persona“ verantwortlich). Handeln Sie mutig: nehmen Sie dem Mittelmanagement einerseits die Angst vor Veränderungen, zwingen Sie die Betroffenen auf der anderen Seite aber auch zu den entsprechenden fachlichen Weiterbildungen und schaffen Sie vor allem ein Klima von Vertrauen und Fairness auf allen Ebenen. Seien Sie zudem immer  konsequent, wenn das im Einzelfall nicht hilft, indem Sie Erbhöfe schleifen und Strukturen neu ordnen. Kurzum: wir müssen dafür sorgen, dass im Marketing die Instrumente in genau der richtigen Dosierung eingesetzt werden, die notwendig sind und nicht diejenigen, die verfügbar sind.