10 Denkfehler im Marketing Teil 9: Silodenken


von Fred Geiger

Warum uns „Faktentennis“ bei Entscheidungen oft gar nicht weiterhilft

Wenn Sie Digital Native sind oder die Entwicklung des Internets ab Mitte der 90er Jahre aufmerksam verfolgt haben werden Sie ganz sicher glauben, dass durch das Web und vor allem die sozialen Medien der Austausch von Informationen und die Meinungsvielfalt deutlich zugenommen hat und Ihre eigenen Möglichkeiten fundierte, faktengestützte Entscheidungen zu treffen sich geradezu dramatisch verbessert haben. Auch ich unterliege ganz häufig dieser Täuschung, aber die Realität ist ganz offensichtlich eine andere, wahrscheinlich ist sogar genau das Gegenteil der Fall – die Menge an Fakten erschwert es uns kluge Entscheidungen zu treffen:

Zum einen gilt das Phänomen „wir dürsten nach Wissen, aber wir ersaufen in Informationen“ (ein Postulat, das schon 1992 der 2003 verstorbene Neil Postman in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ vorausgesehen hat), weil uns die moderne Mediengesellschaft im Allgemeinen und das Internet im Besonderen mit einer maßlosen Informationsflut, dargereicht in geringer geistiger Tiefe und verpackt als Entertainment, komplett überfordert. Zum anderen bilden sich in sozialen Medien Biotope Gleichgesinnter, die uns den Blick auf alternative Ansichten vernebeln oder gar unmöglich machen.

Aktuell werden ja einerseits die verschiedenen Alternativen zur Eindämmung des Coronavirus und auf der anderen Seite, die mit dem Virus einhergehenden katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Folgen kontrovers diskutiert. Nun möchte man meinen, dass wir doch alle keine Virologen sind und uns deshalb in dieser fachlich fast undurchdringlichen Materie kein eigenes Urteil bilden sollten. Tatsächlich gibt es in Deutschland nur etwa 50 Lehrstühle zu diesem Thema (gegenüber 190 Lehrstühlen zur „Genderforschung“) und die Deutsche Gesellschaft für Virologie hat nur etwa 1000 Mitglieder. Es ist eben eine komplizierte Materie zu der nur eine kleine Gruppe von hoch spezialisierten Forschern wirklich Zugang hat. Mit den volkswirtschaftlichen Folgen dieser möglicherweise größten Krise seit 1929 kennen sich hingegen sicher mehr Forscher aus und viele Menschen, die einmal Volkswirtschaftslehre, BWL o.ä. studiert haben können sich hier eine mehr oder weniger fundierte Meinung bilden. Da die VWL aber keine Naturwissenschaft ist, gibt es aber der fundierten Meinungen sehr, sehr viele.

Obwohl wir also fast alle keine Ahnung von diesem Fachgebiet haben, spalten trotzdem zwei unversöhnliche Lager die Gesellschaft. Getrieben nicht etwa durch eine angemessene Argumentation wie „ich glaube“ oder „meiner Meinung nach“, sondern durch faktengetriebene heftige verbale Auseinandersetzungen. Je nachdem welcher „Fraktion“ wir angehören, verwenden wir ganz selbstverständlich Begriffe wie „Übersterblichkeit“, „Reproduktionszahl“ oder „Sterblichkeitsrate“. Das Problem besteht darin, dass diese Zahlen, trotz aller Genauigkeit bis hin zur zweiten Kommastelle, im Grunde untauglich sind, um das Ausmaß der Coronainfektion zu verstehen oder internationale Vergleiche anzustellen. In Wirklichkeit fehlt dem ganzen Zahlenwerk und den daraus ermittelten Kennziffern eine gesicherte Datenbasis, wie zum Beispiel die Gesamtzahl der Infizierten in einem Land. Aus diesem Grund wissen wir heute nicht, ob der deutsche Weg der passende ist, die Schweden bei ihren Entscheidungen richtig lagen oder ob wir uns Südkorea zum Vorbild nehmen sollten. Es ist wissenschaftlich heute nicht möglich, darüber eine gesicherte Aussage zu treffen. In einem Jahr werden wir schlauer sein, wenn wir die Sterblichkeit im ersten Halbjahr 2020 mit dem Vorjahr vergleichen können. Gefangen in unserem Silo von Einstellungen und Meinungen schlagen wir uns aber trotzdem, ohne Zögern oder den geringsten Zweifel, auf die eine oder andere Seite und versuchen den jeweiligen Gegner faktenreich nieder zu argumentieren.

Als weiteres Beispiel kann man hier die Flüchtlingskrise anführen: Die Foren im Webauftritt „Der Welt“ (der laut ihrer Gegner „bräsig-arroganten Millionärsgazette“) sind fast ausschließlich durch kritische Meinungen zum Thema dominiert und einzelne anders geprägte Foristen, unterstellen der Welt „rechtes oder rechtspopulistisches Gedankengut zu verbreiten“. In einer „Süddeutschen Zeitung“ hingegen, von Kritikern auch „Alpenprawda“ genannt, finden sich vorwiegend in Inhalt und Tonalität diametral entgegengesetzt geschriebene Artikel und in den Foren, Sie ahnen es schon, gibt es auch kaum nur die Spur einer Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, allenfalls geht es in den Beiträgen darum, dass die Hilfsbereitschaft gegenüber Migranten sogar nicht weit genug geht.  Was mich erschreckt: Auch hier wird die Diskussion von allen Seiten mit inquisitorischem Eifer geführt und man traut sich nicht seine Meinung frei zu äußern, um nicht auf dem kommunikativen Scheiterhaufen der einen oder anderen Seite zu landen. Eine Entwicklung, die ich in unserem Land noch vor wenigen Jahren für völlig undenkbar gehalten hätte. Gesellschaftlich führt das aus meiner Sicht zu einem Verlust eines echten Diskurses, ja einem gänzlichen Fehlen von politischer Streitkultur und statt Vielfalt dominiert die Einfalt. Für das Marketing gilt leider genau das Gleiche, weil die Marketingarbeit eben auch nur von Menschen gestaltet wird. Nehmen wir zum Beispiel die Möglichkeiten, die ein Unternehmen in Sachen „Contentstrategie“ generell hat:

premeon Content Strategien im Social Media Marketing
Contentstrategien im Social Media Marketing

Warum es sinnvoll ist, die Bewohner des anderen Silos zu verstehen

Wenn Sie allerdings Umfragen in deutschen Unternehmen durchführen, und nach deren Social Media Aktivitäten fragen, erschöpft sich das in passivem Blogging und einem uninspirierten Facebook-Auftritt. Ein wesentlicher Grund hierfür: Gefangen im eigenen Silo kann man sich die Vielfalt der Möglichkeiten, die Social Media bietet, überhaupt nicht vorstellen. Wir schwierig das Ausbrechen aus diesem Denken ist, erlebe ich häufig bei firmeninternen Veranstaltungen zu denen man mich als Berater, Trainer oder Impulsgeber einlädt. Unversöhnlich in der Sache aber ungeheuer freundlich im Ton, stehen sich dort die Lager der Klassiker und die Apologeten der neuen, digitalen Marketingzeit gegenüber. Auf die Idee, dass vielleicht beide Seiten ein wenig „Recht haben“ kommt niemand und insofern bleibt das Ergebnis dieser Veranstaltungen für alle, übrigens auch für mich, meist unbefriedigend. Dabei gilt es doch, gerade in Zeiten wie diesen, wo Marketingeffizienz für viele Unternehmen zur Existenzfrage wird, aus den Bausteinen „above the line“ und „below the line“ eine „through the line“-Kommunikation zu entwickeln. Gutes Marketing ist von dieser Warte aus durch wahrhaftiges und wahrhaft agiles Projektmanagement sowie ein effizientes und ergebnisoffenes Management von Komplexität geprägt. Es ist ein wenig so wie der Dirigent eines Orchesters, der jetzt statt einer Kammerbesetzung mit 6 Musikern ein Symphonieorchester mit 80 Musikern dirigieren muss und dabei trotzdem das gleiche Stück zur Aufführung bringt. Alle Beteiligten wissen das im Grunde ihres Herzens – nur niemand hat die Traute die Wohlfühlzone seines eigenen Erfahrungshintergrunds zu verlassen.

Aber nicht nur die „alten weißen Männer“, die „Nicht-Millenials“ oder die „Nicht-Digital-Natives“ sind dabei das Problem. Was viele Online Marketeers völlig übersehen ist die Tatsache, dass vielleicht ein Großteil mancher Zielgruppen überhaupt keine Affinität zum Web hat. Deutlich wird dies aus meiner Sicht am Beispiel der sozialen Medien und dem mobilen Marketing: Unbestritten gehört diesen Instrumenten die Zukunft und es ist klug, dort in Know-How und Personal zu investieren. In vielen Branchen stellt sich allerdings zu Recht die Frage, ob „Social“ und „Mobile“ bereits die Gegenwart darstellt. Die Antwort darauf ist häufig “nein”. Das bedeutet wiederum, dass Unternehmen zwar in die Zukunft investieren (was bitteschön auch notwendig ist), aber aus diesem Grund leider ihre Gegenwart vernachlässigen.

Ein Beispiel hierfür ist die häufig völlig einseitige Ausrichtung des Marketing auf die „Millenials“. Da wird in Facebook-Seiten investiert, die in einem Jahr 34 Besucher haben. Da werden Diskussionsforen betrieben, auf denen fast ausschließlich die eigenen Mitarbeiter aber eben leider keine Kunden kommunizieren. Da wird auf jeden Flyer ein QR-Code gedruckt, der dann bei einer Auflage von 10.000 Stück nicht ein einziges Mal aufgerufen wird. Selbst erlebt: Eine Bank lässt eine Finanzplanungsapp für 6-stellige Eurobeträge entwickeln, die insgesamt 120 mal heruntergeladen wird. Verstehen Sie mich nicht falsch: das sind notwendige und sinnvolle Investitionen und im digitalen Marketing muss einfach, aufgrund der ungeheuren Dynamik dieser Medien mit höheren Floppraten bei den Marketingtools gerechnet werden (man erinnere sich nur an die Millionen, die Unternehmen guten Glaubens in „Second Life“ vernichtet haben). Die einseitige Konzentration auf die Zielgruppe der Webaffinen birgt aber die Gefahr, dass wir die anderen Kunden und Interessenten vernachlässigen.

Einige weitere Beispiele: Das klassische Mailing ist nicht „tot“, es kann gut gemacht sogar effizienter sein als ein Mailshot an unsere Kunden, der im Spam-Filter des Unternehmens oder ungelesen im Papierkorb des Mailempfängers landet. Bei einem Preisausschreiben am POS ist es eben immer noch klug eine Postkarte in einem Dispenser parallel zu einer Microsite im Web anzubieten. Und vielleicht will der Mediziner, den wir zu einer Veranstaltung einladen, schlicht mit einem Faxformular antworten (fragen Sie doch einfach einmal in einer Arztpraxis nach, welche Medien dort genutzt werden) und nicht mit dem Click auf einen Link auf unserer Extranet-Seite im passwordgeschützten Kundenbereich unserer Website.

Auf das wahre Leben umgemünzt: Verlassen Sie Ihr Silo. Besuchen Sie die anderen Silos und versuchen Sie zu ergründen, warum sich die Menschen dort so wohlfühlen. Das bedeutet übrigens nicht eigene Überzeugungen und Haltungen aufzugeben. Sie sollten aber wirklich stolz darauf sein, dass zu Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Menschen ohne Smartphone gehören. Dass es Freunde gibt, die Ihre Mails niemals lesen und angerufen werden möchten und Bekannte aller Altersklassen, die politisch von der AFD über die CDU und die Grünen bis hin zu den Linken zu verorten sind. Querdenken statt Silodenken, Neugier statt Bauchnabelschau, Mut statt Feigheit, Vielfalt statt Einfalt und Brainstorming statt Brainlulling sind die besten Ratgeber, um das Potenzial von Märkten optimal auszuschöpfen.